Was hat uns zu dieser Tagung bewogen? Zunächst die traurige Tatsache, dass wir seit Ende des Kalten Krieges nicht in ein Zeitalter des ewigen Friedens eingetreten sind, sondern eine massive Zunahme ethnischer und religiöser Konflikte erleben, mit Millionen von Toten und unzähligen Flüchtlingen. Dabei ist oft nicht auf den ersten Blick zu erkennen, welche Wechselwirkung zwischen sozialen, politischen, ethnischen und religiösen Faktoren besteht: sind ethnische Feindschaften tatsächlich die Ursache gewaltsamer Zusammenstöße, oder wirken sie lediglich als Verstärker für Verteilungskämpfe um knappe Ressourcen: Land, Wasser, Rohstoffe und politische Macht?
In den Balkankriegen der 90er Jahre wurden ethnische und religiöse Zuordnungen durch politische Akteursgruppen ebenso instrumentalisiert wie in Ruanda. Mit dieser Einsicht ist allerdings noch nicht viel gewonnen. Die Frage ist, weshalb und unter welchen Bedingungen sich ethnische Spannungen politisch aufladen lassen bis hin zum Völkermord – und wie diese Spirale der Gewalt gestoppt werden kann, bevor alle Dämme brechen.
Ethnisch oder religiös aufgeheizte Konflikte haben eine besondere Gewaltdynamik, weil es in ihnen nicht nur um Interessengegensätze geht, sondern um kollektive Identitäten, historische Mythen und tief sitzende Feindbilder. Einmal in Gang gekommen, haben sie eine sich selbst verstärkende Tendenz, die schwer einzudämmen ist. Das ist gegenwärtig auch im Sudan und im Irak zu beobachten. Zynische Realisten empfehlen, solche Konflikte ausbluten zu lassen. Idealisten fordern eine „Responsibility to Protect“ bis hin zu humanitären Interventionen.
Die Frage, vor der die internationale Gemeinschaft in solchen Fällen steht, ist jedoch nicht nur, wie ethnisch und religiös aufgeladene Konflikte zu beenden sind, sondern wie nach solchen Konflikten ein funktionierender Staat aufgebaut werden kann. Dies ist die weitaus schwierigere Aufgabe. Denn hier geht es nicht nur um den Neuaufbau von Institutionen, sondern um „Nation Building“, also die Herausbildung einer politischen Gemeinschaft über alle ethnischen, religiösen und kulturellen Differenzen hinweg.
Wenn Nation Building nicht gelingt, wird auch State Building scheitern. Dann erscheint als einzig realistischer Ausweg eine immer weitere Parzellierung von Staaten entlang ethnisch-religiöser Trennungslinien – oder die Errichtung einer harten, autoritären Macht, die diese Konflikte zumindest vorübergehend unterdrückt. Der serbisch-kosovarische und der chinesisch-tibetische Konflikt stehen für diese beiden unterschiedlichen Wege.
Es hat sich gezeigt, dass in unterschiedlichen Kontexten sehr unterschiedliche Strategien gewählt wurden, ethnische und religiöse Zugehörigkeiten beim Staatsaufbau zu berücksichtigen. Dies reicht von „Regierungen der nationalen Einheit“ (wie es jetzt in Kenia mit ungewissem Ausgang versucht wird) über eine ethnische Quotierung von staatlichen Institutionen, die Verankerung kultureller Autonomie und weit gehender regionaler Selbstverwaltung in der Verfassung (wie etwa in Spanien oder Belgien) bis hin zur Aufspaltung von Staaten (friedlich wie im Fall von Tschechien und der Slowakei oder unfriedlich wie zwischen Serbien und dem Kosovo).
Das Management ethnisch-religiöser Konflikte führt in völkerrechtliche und demokratiepolitische Grauzonen. Im zugespitzten Fall geht es um die Abwägung zwischen dem Stabilität verbürgenden Grundsatz der territorialen Integrität von Staaten und dem revolutionären Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Aber auch im weniger dramatischen Fall einer innerstaatlichen Ausbalancierung ethnischer oder religiöser Gruppeninteressen beobachten wir Zielkonflikte, die an die Substanz der Demokratie gehen können. Wenn Staaten nach ethnischen Kriterien aufgebaut werden, wie das zum Beispiel im Libanon der Fall ist, institutionalisiert man einen Dauerkonflikt und befördert eine zentrifugale Dynamik, die den Staat unterhöhlt und die Herausbildung einer multiethnischen Demokratie verhindert.
In jedem Einzelfall muss deshalb eine Balance zwischen dem Ideal der unitarischen Republik, die ethnische und religiöse Unterschiede ignoriert, und ihrem Gegenteil, dem ethnischen Partikularismus, gefunden werden. Die zwanghafte Leugnung des real existierenden ethnisch-kulturellen Pluralismus befördert gewaltsame Konflikte. Man kann das am Beispiel der kemalistischen Republik in der Türkei studieren. Aber das bloße Gegenteil, wie es etwa in Bosnien mit dem Dayton-Abkommen geschaffen wurde, kann zum gleichen Ergebnis führen.
Wir haben für diese Tagung einen vergleichenden Ansatz gewählt. Konflikte sind in all ihrer Unterschiedlichkeit zwar nur schwer zu vergleichen. Dennoch können Vergleiche hilfreich sein, um die Erfolge und Misserfolge verschiedener Strategien ethnischer Integration zu bewerten. Das wollen wir heute anhand verschiedener Fallbeispiele versuchen: vom Libanon über den Irak, den westlichen Balkan und Georgien bis hin zu Belgien. Uns interessiert, ob man gemeinsame Lehren aus den Erfahrungen dieser sehr verschiedenen Länder und Regionen ziehen kann.
Die Heinrich Böll Stiftung befasst sich in ihrer internationalen Arbeit seit langem mit Fragen der Demokratieförderung und des State Building. Dabei sehen wir in der Europäischen Union ein Beispiel, wie eine lange Geschichte von Kriegen und Bürgerkriegen überwunden werden kann auf der Basis demokratischer Prinzipien, die Vielfalt und friedliche Konfliktlösung gleichermaßen gewährleisten. Letztlich war es eben nicht die ethnische Separierung, sondern die wachsende ökonomische und politische Integration, die das friedliche Zusammenleben ehemaliger Kriegsgegner befördert hat. Wie wir mit ethnischen und religiösen Konflikten umgehen, ist eine zentrale Frage der internationalen Politik dieser Tage. Daran kann sich entscheiden, ob wir einer friedlichen oder einer unfriedlichen Zukunft entgegengehen. Wir hoffen, mit unserer Tagung einen bescheidenen Beitrag leisten zu können, Antworten auf diese Frage zu finden.